Prießeck 8 – Spielraum Wendland e.V.

29459 Clenze

Zusammenleben mit Tiefgang und ohne Regelkorsett

In Prießeck 8 leben fünf Menschen um die 60 Jahre als „Hausgemeinschaft“ gemeinsam unter einem Dach. Das denkmalgeschützte Haus hat 350qm Wohnfläche, die sich in zwei Wohneinheiten aufteilt. Im Erdgeschoss leben seit etwa neun Jahren Simone, Jürgen und Loka. Oben drüber seit knapp einem Jahr Majanne und Jürgen. Das Dreiständer-Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert ist umgeben von 2000qm Garten, der jetzt im Sommer dank Simone und Majanne, die viel Zeit hier verbringen, eine wahre Blumenpracht ist.

Gemüse angebaut wurde hier auch schon. Weil die Netzwerke zu Bezugsquellen wie der Solawi oder zum Nachbarn Ökomeyer so gut sind, lohnt sich die damit verbundene Arbeit aber nicht mehr so richtig. Lebensmittel werden im Haus verteilt, gelegentlich auch gemeinsam verwertet und verspeist. Besonders im Sommer treffen sich die fünf gern im „Draußenwohnzimmer“. Wenn es regnet, steht der Dachboden zur Verfügung, mit Tischtennisplatte oder Sofaecke – „aber wir wuseln eh im ganzen Haus nach Lust und Laune“, schmunzelt Jürgen.

Dort leben, wo es schön ist

Grundsätzlich gibt es hier kein „Regelkorsett“, keine festgelegten Rituale oder Treffen. Es gibt immer wieder „Tür- und Angelgespräche“, dafür wird sich aber nicht verabredet. Gibt es etwas zu klären, dann findet man sich zusammen, etwa am Frühstückstisch. Manchmal auch mit deutlichen Tiefgang, dann werden sich z.B. einander morgens die Träume erzählt. Und wenn man sich mal aus dem Weg gehen muss, dann glückt das in der Regel auch. Hier herrscht eine „Erlaubniskultur“, man darf auch mal schlechte Laune haben, „Tür zu und lasst mich in Ruhe“, ist durchaus erlaubt, schmunzelt Loka. „Wir sind fünf schräge Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Befindlichkeiten – und bekommen das Zusammenleben trotzdem hin“ ergänzt Majanne. „Ich bin über 60, ich brauche die Konflikte nicht mehr.“

„Ich will da leben, wo es schön ist“, sagt Loka. Für ihn ist Grundvoraussetzung für das Zusammenleben ein Bewusstsein, den anderen wahrzunehmen und ihm genügend Raum zu geben. „Man kann alles regeln“, freut sich Majanne, „denn mein Ziel ist es schließlich, hier zu sein.“ Sie ist mit ihrem Mann Jürgen aus der Nähe von Bremen und Diepholz ins Wendland gekommen, um nach jahrzehntelanger Kulturarbeit einen Neustart zu wagen. Die beiden haben schon unheimlich viel bewegt, auf ihrem damaligen Hof vier Kinder großgezogen, mit ihrem „kleinsten soziokulturellen Zentrum“ Niedersachsens, vielen Projekten und Menschen um sich, schafften sie es bis ins Fernsehen. Doch als die Kinder aus dem Haus waren und die Arbeit nicht weniger wurde, entschieden sie sich für einen Neustart im Wendland – weil es hier „so speziell ist, das gibt es sonst nirgends“. Auf dem eigenen Hof wollten sie nicht bleiben, die Anforderungen im Alltag waren zu groß und komplex, hier konnten die beiden die gewünschte Ruhe nicht mehr finden. Mit Prießeck haben sie ihr „Traumdorf“ gefunden, freuen sich über die tolle Nachbarschaft, den unkomplizierten Umgang, Möglichkeiten, Fähigkeiten, Neigungen und Offenheit. Hier kennt jeder jeden – „und jedes Haus von innen“, berichtet Simone. Es hat eine richtig gute Dorfgemeinschaft. „In dieser Lebensphase ist es super hier“, betont Majanne. Ein Jahr lang haben sie und Jürgen die anderen Mitbewohner*innen aus Prießeck 8 kennengelernt. Wie lange sie hier bleiben, wird sich zeigen: „Wir bleiben solange hier wohnen, wie es für uns gut ist“, lachen beide. Gelebt wird hier allerdings nicht in einer Wohngemeinschaft, sondern in einer Hausgemeinschaft, Rückzugsorte für jeden und jede sind uns wichtig. „Das hätten wir sonst nicht gemacht“, sagt Jürgen.

Der Anfang des Gemeinschaftsprojekts war spannend und ein Sprung ins Unbekannte. Jeder gab damals soviel Geld er oder sie konnte, den Rest besorgte man sich bei der Bank. Man kannte sich erst wenige Monate und die Debatten waren hitzig. „Wir mussten uns erstmal kennenlernen“, erinnern sich die Gründer*innen zurück. „Jeder und jede hatte sein Päckchen Ängste dabei“. Vor allem über Finanzen wurde heftig diskutiert. Ein einfaches Rezept half in festgefahrenen Situationen: Man vertagte das Thema und nahm den Faden später wieder auf. „Man muss den Dingen manchmal Zeit geben“, ist man sich heute einig. „Man macht Türen auf und lernt“, sagt Loka. „Klappt es heute nicht, dann klappt es morgen.“ Am Anfang bekam jeder und jede zum Beispiel den Raum, seine Lebensgeschichte mitzuteilen. Was gewisse Offenheit unter allen Beteiligten voraussetzt. Viele Probleme haben sich über die Zeit schlicht von selbst gelöst – auch weil man sich immer besser kennengelernt hat. „Grundlage ist ein gegenseitiges Wohlwollen“, meint Simone. „Dann funktioniert ganz viel.“ Man sollte aber schon ähnliche und gemeinsame Ausrichtungen haben, weiss Loka. Und der Eindruck kann natürlich am Anfang, bei der Neugründung und entsprechender Euphorie, täuschen. Sich lange und gut zu kennen ist allerdings auch keine Garantie, dass es langfristig gut geht. „Wir probieren es einfach“, heißt das Rezept von Prießeck 8.

Die Verbindlichkeiten untereinander sind allerdings hoch: Zu viert wird sich ein erdgasbetriebenes Auto geteilt, gemeinsam müssen jeden Monat die noch laufenden Kredite zurückgezahlt und die Nebenkosten aufgebracht werden. Doch in Jürgens Excel-Tabellen laufen alle Informationen zusammen, er hält als „Finanzminister“ die Ausgaben im Blick – und ist entspannt. Es läuft rund und sicher, denn eine der wenigen Regeln besagt, dass immer erst die Verbindlichkeiten gegenüber der Bank bedient werden müssen.

Spielraum Wendland e.V.

Eigentümer des Hauses ist der Verein „Spielraum Wendland e.V.“. Gemeinsam mit Freunden wurde diese Basis vor knapp zehn Jahren gegründet, um die Immobilie zu erwerben. Einmal im Jahr findet eine Vereinssitzung statt. Dieses Treffen hat einerseits formale Gründe, man schaut sich die Zahlen gemeinsam mal genauer an und berät über künftige Projekte. Weil es aber auch Vereinsmitglieder gibt, die hier nicht (mehr) wohnen, bekommen die Bewohner*innen „einen Blick von außen“. Der ist sehr wertvoll, ist man sich einig.

Die Gründung eines Vereins als Grundlage für ein gemeinsames Wohnen ist schon speziell, es sei wichtig dass die Satzung auch zum Vorhaben passt. Auch dafür muss man sich als Gruppe genügend Zeit und Raum für Diskussionen geben. Prießeck 8 hat dabei ein besonderes Konzept erarbeitet: Wenn gar nichts mehr geht, die Gemeinschaft sich auflöst, dann soll es laut Satzung „…einer Vereinigung überlassen [werden], die den Zielen des Vereins nahe kommt“. So ist das Haus nicht verkäuflich, es ist vom „Spekulationsmarkt genommen“. Darüber, dass die „Kapital-Denke“ weitgehend aus dem Projekt herausgenommen werden konnte, sind alle glücklich.

Das bedeutet aber auch, dass egal wieviel jeder und jede einzelne in das Haus investiert, alle gleichberechtigt sind, es entsteht keine Hierarchie. „Wir sind die Pfleger dieses Ortes“ fasst Simone die Idee zusammen. „Wir dürfen hier sein und gestalten – und nach uns kommen andere.“ Dieses Fundament ermöglicht es auch Menschen mit wenig Geld „ein Haus mit Garten zu haben“.

Gelassen Altern

Alle fünf sind im Alter um die 60 Jahre. Doch dem älter-werden sehen sie gelassen entgegen. „Darüber mache ich mir überhaupt keine Sorgen“, sind sie sich einig. Die hilfsbereite Nachbarschaft, das wertvolle, unkomplizierte Miteinander, jeder und jede trägt seine eigene Saat in die Gruppe.

Für die Zukunft gibt es weitere Pläne, zum Beispiel soll der Dachboden ausgebaut werden. Hier soll ein gemeinschaftlicher Raum geschaffen werden, eine Leseecke, Kreativraum, Sonnenuntergangsbeguckbutze… ein Ort zum Wohlfühlen für die jetzigen und künftigen Bewohner.

Text und Fotos: Kina und Jan Becker

„Grundlage ist ein gegenseitiges Wohlwollen“